Montag, 7. Mai 2012

211 Kilometer, 7049 Höhenmeter. Eine schöne Tagestour im Salzkammergut.

Kacke. Es ist kurz vor 04.00 Uhr und ich bekomme die erste Panikattacke des Tages: ich bin zu spät dran. Noch nicht wach, noch nicht angezogen, noch nicht gefrühstückt und zum Start rollen muss ich auch noch. Welcher Depp hat noch mal das Hotel oben am Berg gebucht - das mit der schönen Aussicht, aber dem elend langen Weg ins Dorfzentrum von Bad Goisern? Ich könnte mich in den Hintern beißen dafür. Blick nach draußen: Stockdunkel. Im Licht der Straßenlaternen schimmern die Straßen nass – es hat ziemlich heftig geregnet heute Nacht. Kurzes Stoßgebet, das es zumindest heute so sonnig wird, wie von den Wetterfröschen versprochen und ab zum Frühstück. 10 Minuten später habe ich 4 oder 5 Kranzkuchenstücke mit Nutella, einen Kaffee und 2 Gläser Wasser in mich reingewürgt, mehr geht um diese Uhrzeit einfach nicht. Egal, wird schon reichen, außerdem sind die Trikottaschen vollgestopft mit Gels und Riegeln, es gibt zig Verpflegungsstellen und Swantje ist ja auch noch da. Verhungern werde ich also sicher nicht.
04.40 Uhr. Höchste Zeit in den Startblock zu rollen.
Hier warten bereits weitere 500 Verrückte – unter ihnen auch JB, der mich heute den ganzen Tag begleiten wird. Die Stimmung um uns herum ist nervös und angespannt – die anderen haben offensichtlich genauso viel Respekt vor der Strecke wie wir. Während der Moderator des Rennens noch fröhlich plappernd letzte Streckeninfos verteilt und Roberto Heras, der ehemalige Wasserträger von Lance Armstrong, als Top-Favorit ankündigt wird, gibt die Morgendämmerung langsam den Blick frei auf die umliegenden Berge. Es sind ganz schön viele. Na servus.



Gut nur, dass keine Zeit bleibt, einen weiteren Gedanken an die vielen Höhenmeter zu verschwenden, denn der Startschuss ist pünktlich und schon winden wir uns sauber aufgereiht durch die engen Gassen von Bad Goisern. JB hat Marschtabelle und Höhenprofil immer im Blick, ich habe wie immer nur ein paar Streckendetails grob im Kopf und erinnere mich dunkel an die Zeitlimits, die es zu meistern gilt. Unsere Renntaktik: am Anfang dosiert Gas geben und hinten raus das Rennen souverän nach Hause fahren. Aber erst mal rauf zum Rehkogel und weiter zum Raschberg. Der aber leider seinem Namen nicht ganz gerecht wird, den ein ziemlich ausgewaschener und dank der Nässe glitschiger Karrenweg zwingt uns in die erste Schiebepassage des Tages. Zäh. Zum Glück sind es aber nur ein paar Meter und bald sitzen wir wieder im Sattel. Rauschende Abfahrt, dann der Aufstieg zur Hütteneckalm. Da gibt's leckeren Kaiserschmarrn, aber nicht für uns heute leider. Wir müssen weiter. Steilabfahrt auf Schotter, dann ein grober fels- und wurzeldurchsetzter Trail. Auch rutschig. Um mich herum machen sich einige lang, JB und ich lassen es ruhig angehen und können Stürze vermeiden. Ein paar schnelle Schotterkilometer weiter, dann das erste echte Highlight des frühen Tages: der Trail durch die ewige Wand. Der in eine senkrechte Felswand gehauene Weg schwebt hoch über Bad Goisern und bietet einen traumhaften Blick über Tauernmassiv und Dachstein. Schade, dass auch hier keine Pause drin ist, aber zum Glück kommen wir hier ja heute zweimal vorbei. Immer noch geht's bergab, wieder ein schmieriger Trail, dann ein paar Treppen und schon sind wir in Weißenbach und treffen Swantje, die hier für uns einen Verpflegungspunkt eingerichtet hat.



Kurzer Stopp, Flasche auffüllen und weiter. Wieder rauf zum Rehkogl, aber zum Glück auf einem anderen Weg. Keine Schiebepassage diesmal, das spart Körner für das, was noch kommt. Über Reith erreichen wir die Blaa-Alm, dann kämpfen wir uns hoch zur Tauernkreuzung. Und hinein in das nächste Highlight des Tages - den Rettenbachtrail. Fangnetze sichern des ausgesetzten Weg, der sich aber schnell und flüssig fahren lässt – bis er schlagartig in den Wald abkippt und sich der bis dahin griffige Untergrund in eine glitschige Felsenrutschbahn verwandelt. Ich kann gerade noch rechtzeitig das Tempo reduzieren, die beiden vor mir leider nicht. Sturz. Zum Glück ist nichts passiert und für alle geht es weiter. Zu Fuß. Sicher ist sicher. 500 Meter später treten wir wieder. Bergauf. Hütteneckalm. Wieder kein Kaiserschmarrn. Trail bergab, ewige Wand. Wieder keine Pause, um die Aussicht zu genießen. Treppen. Weißenbach. Swantje. Flaschen auffüllen, ein Gel einschieben. JB hat Essig in der Flasche - zum Glück muss ich das nicht trinken. Abschiedskuss und rauf zum Hochmuth. Ich denke noch kurz "Hochmuth kommt vor dem Fall", dann geht es auch schon wieder bergab. Heftig. Zwar ohne Fall. Aber auch ohne zu fahren. Zu steil, zu rutschig, zu wurzelig – unfahrbar. Jedenfalls im Rennmodus. Schon sind wir wieder in Weißenbach und werden ein weiteres mal von Swantje versorgt. Luxus.
Luxuriös auch mittlerweile unser Vorsprung auf die Zeitlimits.
Wir liegen voll im Plan, die Marschtabelle von JB scheint aufzugehen. Und jetzt warten zu unserer Freude erst mal 25 flache Kilometer auf uns. Zeit, sich zu erholen, und die Landschaft zu genießen, denn ganz viele dieser Kilometer führen direkt am Hallstätter See vorbei. Doch so schön die Aussicht auch ist, so brutal ist die Streckenführung auch: neben uns wird im See geplantscht, in der Sonne gebadet und ab und zu weht Grillgeruch über die Strecke. Doch auf uns wartet kein leckeres Steak, sondern der Salzberg. Was wir gehört haben: sausteil, teilweise auf Gras, Rampen bis zu 35%. Ich habe mir fest vorgenommen, das Ding zu fahren, koste es was es wolle, JB will Körner sparen und schieben, sobald Fahren sinnlos wird. Doch noch sind wir zusammen, schon in den ersten, noch mäßig steilen Serpentinen am Fuß des Salzbergs überholen wir die ersten Schiebenden. Kehre um Kehre kämpfen wir uns nach oben, JB immer kurz hinter mir. Dann öffnet sich der Wald und plötzlich zeigt der Weg kerzengerade nach oben. Gras. Merde. Zum Glück ist die Wiese trocken und das Hinterrad hat genug Grip. Dennoch beiße ich fast in den Lenker, aber. ich. will. da. hoch. Außerdem ist es nicht mehr weit, ich kann ja schon die Bergstation sehen. Kurz darauf bin ich da und "Fuck" die Bergstation ist gar nicht die Bergstation. Es geht weiter bergauf. Asphalt. Noch steiler. Ich fahre zickzack, kann mich aber im Sattel halten. Der Schweiß rinnt in Strömen, ich bekomme von einer netten Zuschauerin eine kurze Dusche aus dem Gartenschlauch, dann endlich wird es flacher. Blick zurück, JB ist nicht mehr zu sehen. OK, er ist vernünftiger als ich und schiebt. Ich passiere eine Kontrollstation, bekomme einen kleinen Sonderapplaus für meine sinnfreie Aktion und dann bin ich oben. Kurze Pause, ein Gel. Dann treffen nach und nach die ein, die ich überholt habe. Eigentlich sollte JB unter ihnen sein. Ist er aber nicht. Mist. Vielleicht hat ihn einer der Jungs gesehen. Also nachfragen.
"Der steht mit Kettenriss ziemlich weit unten"
WTF? Die zweite Panikattacke des Tages. Doch gerade als ich mich auf den Weg nach unten machen will, kommt er oben an. Uff, Schwein gehabt. Zeitplan? Wir liegen immer noch voll auf Kurs, aber bummeln dürfen wir nicht. Wir düsen zügig bergab, um gleich darauf in den vorletzten Anstieg des Tages zu gehen. Und obwohl ich mir mittlerweile sicher bin, dass wir das Ziel erreichen werden – ab hier wird es noch mal richtig zäh. Die Sonne knallt voll in den Hang, um uns herum ist es ziemlich einsam und außerdem zwickt und zwackt es mittlerweile überall. Das Knie, die Hüfte und vor allem der Hintern –AUA. Nur gut, dass ich mich jetzt hier nicht alleine hochquälen muss. Wir erreichen die Roßalm und stürzen uns in die letzte echte Abfahrt des Tages zum Gossause. Schön: der Panoramablick auf den Dachsteingletscher. Noch schöner: Swantje wartet zu unserer Überraschung auf uns. Ich freue mich riesig, sie hier noch mal zu sehen. Wir quatschen kurz, Cola hat sie auch dabei, perfekt. So noch mal zusätzlich motiviert, nehmen wir den Schlussanstieg in Angriff. Die letzten 450 echten Höhenmeter. Ein letztes mal beißen, dann sind wir oben und brettern im Eilzug-Tempo gen Tal. Ein paar Asphaltkilometer, ein letztes mal die kurze aber knackig-steile Wiesenabfahrt ohne in den Fluss zu platschen, eine Dorfrunde und wir rollen ins Ziel. Erschöpft. Glücklich. Jubelnd.


20 Minuten später in einem eigentlich trost- und schmucklosen Raum des Stephaneums in Bad Goisern. Zwei erwachsene Männer nehmen zwei läppische schwarze T-Shirts in Empfang und strahlen um die Wette. Denn es sind nicht irgendwelchen schwarzen T-Shirts, sondern die Finisher-Shirts der A-Strecke der Salzkammergut-Trophy. Yippeh.

Eine Stunde später: wir sitzen beim Italiener und lassen den Tag ausklingen. Bei Radler und Pizza. Um genau zu sein. Spaghetti und Pizza für JB, zwei Pizzen für mich. Großartig war's. Und irgendwie habe ich das Gefühl: ich komme wieder.

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